2012
Tangential Thoughts
Solo show
Galerie Luis Campaña
Galerie Luis Campaña
27/4/12 – 24/8/12
Berlin
Berlin
Text
Urusula Ströbele
Eine Tangente (lat. tangere = berühren) ist in der Geometrie eine Gerade, die eine gegebene Kurve in einem konkreten Punkt berührt, d.h. mit dieser genau einen Punkt gemeinsam hat. Für seine neue Werkgruppe, die er erstmalig innerhalb einer umfassenden Rauminstallation in der Galerie Luis Campaña zeigt, greift Giacomo Santiago Rogado diese mathematische Begrifflichkeit auf. Die durchnummerierten Titel „Tangent 1“, „Tangent 2“, „Tangent 3“… verweisen auf einen seriellen Ansatz des in Berlin lebenden Schweizer Künstlers, der für seine Arbeiten ein einheitliches rechteckiges Hochkantformat (220x150cm) und als Bildträger ungrundierte Leinwand oder Baumwolle wählt.
Aus dunklen Farbflächen, vorwiegend tiefen Blau-, Grau-, Schwarz- und Grüntönen, leuchten weiß schimmernde, vertikal verlaufende Linien hervor. Diese sind allein, paarweise oder nebeneinander in einer Dreier- bzw. Viererkombination zugunsten divergierender Bildrhythmen angeordnet. Ihre diagonale und nicht parallele Ausrichtung deutet – unserer mathematischen Erwartung zufolge – eine gegenseitige Berührung außerhalb des Blick- und Bildfelds an, ohne den unausweichlichen Treffpunkt direkt bestimmen zu können. Charakteristisch für die auch als Pfeile lesbaren Tangenten ist ihre fließende, ausgefranst anmutende Kontur, die in sich einen symmetrischen Farbverlauf,ausgehend von einem hellen Zentrum zu einer goldfarbigen Akzentuierung an den Enden markiert. In Ihrer Funktion als Linie zergliedern sie somit nicht nur die Gesamtfläche in einzelne Bereiche, sondern erhalten gleichermaßen ein plastisches Eigenleben. Diese spezifisch visuellen Merkmale basieren auf der künstlerischen Herangehensweise von Rogado, der für seine abstrakten Kompositionen vorwiegend Textil-, Acryl- und Metallfarben sowie Pigmente mit Salzlösung favorisiert. Im Unterschied zum additiven Verfahren des pastosen Farbauftrags in der Malerei wird hier die mit geschütteter Farbe getränkte Leinwand bzw. Baumwolle anschließend mit Bleich- und Ätzmitteln behandelt. Je dunkler die Partie, desto mehr verdrängt dieser Prozess die Farbe. Sie hinterlässt nur noch eine Spur – vergleichbar einem Kondensstreifen, der den Himmel durchzieht, Referenz auf die Flüchtigkeit eines gewesenen Moments, mit Walter Benjamins treffenden Worten: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“1
Seine Bilder wecken Assoziationen an amerikanische Künstler des Colorfield Painting und des abstrakten Expressionismus, wie Morris Louis, Helen Frankenthalter, Mark Rothko und Frank Stella, letzterer bezogen auf die ebenfalls in der Ausstellung vertretenen Arbeiten „Diagon 1“ und „Diagon 2“. Rogados Auseinandersetzung mit der Tradition des Tafelbilds stellt die damit verbundenen klassischen Maltechniken in Frage. In seinem Verzicht auf eine persönliche Handschrift überlässt er den Entstehungsprozess seiner Komposition primär dem Eigenverhalten des Materials, d.h. der jeweiligen Farbe, wenn sie auf den
Urusula Ströbele
Eine Tangente (lat. tangere = berühren) ist in der Geometrie eine Gerade, die eine gegebene Kurve in einem konkreten Punkt berührt, d.h. mit dieser genau einen Punkt gemeinsam hat. Für seine neue Werkgruppe, die er erstmalig innerhalb einer umfassenden Rauminstallation in der Galerie Luis Campaña zeigt, greift Giacomo Santiago Rogado diese mathematische Begrifflichkeit auf. Die durchnummerierten Titel „Tangent 1“, „Tangent 2“, „Tangent 3“… verweisen auf einen seriellen Ansatz des in Berlin lebenden Schweizer Künstlers, der für seine Arbeiten ein einheitliches rechteckiges Hochkantformat (220x150cm) und als Bildträger ungrundierte Leinwand oder Baumwolle wählt.
Aus dunklen Farbflächen, vorwiegend tiefen Blau-, Grau-, Schwarz- und Grüntönen, leuchten weiß schimmernde, vertikal verlaufende Linien hervor. Diese sind allein, paarweise oder nebeneinander in einer Dreier- bzw. Viererkombination zugunsten divergierender Bildrhythmen angeordnet. Ihre diagonale und nicht parallele Ausrichtung deutet – unserer mathematischen Erwartung zufolge – eine gegenseitige Berührung außerhalb des Blick- und Bildfelds an, ohne den unausweichlichen Treffpunkt direkt bestimmen zu können. Charakteristisch für die auch als Pfeile lesbaren Tangenten ist ihre fließende, ausgefranst anmutende Kontur, die in sich einen symmetrischen Farbverlauf,ausgehend von einem hellen Zentrum zu einer goldfarbigen Akzentuierung an den Enden markiert. In Ihrer Funktion als Linie zergliedern sie somit nicht nur die Gesamtfläche in einzelne Bereiche, sondern erhalten gleichermaßen ein plastisches Eigenleben. Diese spezifisch visuellen Merkmale basieren auf der künstlerischen Herangehensweise von Rogado, der für seine abstrakten Kompositionen vorwiegend Textil-, Acryl- und Metallfarben sowie Pigmente mit Salzlösung favorisiert. Im Unterschied zum additiven Verfahren des pastosen Farbauftrags in der Malerei wird hier die mit geschütteter Farbe getränkte Leinwand bzw. Baumwolle anschließend mit Bleich- und Ätzmitteln behandelt. Je dunkler die Partie, desto mehr verdrängt dieser Prozess die Farbe. Sie hinterlässt nur noch eine Spur – vergleichbar einem Kondensstreifen, der den Himmel durchzieht, Referenz auf die Flüchtigkeit eines gewesenen Moments, mit Walter Benjamins treffenden Worten: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“1
Seine Bilder wecken Assoziationen an amerikanische Künstler des Colorfield Painting und des abstrakten Expressionismus, wie Morris Louis, Helen Frankenthalter, Mark Rothko und Frank Stella, letzterer bezogen auf die ebenfalls in der Ausstellung vertretenen Arbeiten „Diagon 1“ und „Diagon 2“. Rogados Auseinandersetzung mit der Tradition des Tafelbilds stellt die damit verbundenen klassischen Maltechniken in Frage. In seinem Verzicht auf eine persönliche Handschrift überlässt er den Entstehungsprozess seiner Komposition primär dem Eigenverhalten des Materials, d.h. der jeweiligen Farbe, wenn sie auf den
ungrundierten – vom Künstler allerdings in Bewegung gehaltenen – Stoff trifft und sich mit anderen Farbtönen zu überlagernden Kreisen, breiten Bahnen, Tropfen und Schlieren mischt. Die Schattierungen verstärken den Eindruck von Plastizität sowie unterschiedlicher Graduierungen einer illusionistischen Tiefenwirkung.
„Berühren“ – in der französischen Kunsttheorie seit dem 18. Jahrhundert umschrieben mit „la touche“, „toucher“ – bezeichnet den Moment der Werkgenese, in dem der Künstler dem Material seine Konzeption, Idee und Form überstülpt und den Eindruck einer stofflichen Veränderung hervorruft. Zusätzlich stimuliert die technisch-formale Berührung der Farbe mit dem Bildgrund zugunsten einer divergierenden Oberflächentextur matter und glitzernder Partien den Tastreiz des Betrachters.
Sein Blick schwankt zwischen der Ambivalenz der räumlich kaum fassbaren Hintergrundlandschaften und den sich davor erstreckenden, optisch deutlich abgrenzenden, kraftvollen Tangenten. Ähnlich der sich fließend ausbreitenden und mit dem Untergrund verschmilzenden Farbe unterliegt das Auge einer unausweichlichen Anziehung. Ausgehend von diesem zentralen Motiv der Berührung kreisen die Konzepte und Überlegungen des Künstlers um die bei der Wahrnehmung stattfindende Blickkreuzung zwischen Betrachter und Bild:
„Es geht darum, den ersten Blick möglichst lange zu verzögern. Den ersten Blick so lange zu verzögern, dass es mehr ist als nur ein Blick, sondern eine Betrachtung, eine Anschauung oder gar ein
Zustand. All dies bis hin zu einer emotionalen Berührung.“ 2
Zwar wird eine narrative Komponente abstrakten Positionen der bildenden Kunst häufig aberkannt, doch lassen sich innerhalb dieses interaktiven Dialogs durchaus erzählerische Strukturen und unterschiedliche Formen von Zeitlichkeit ablesen – Narration, hier weniger basierend auf einem aristotelischen Spannungsbogen mit Einleitung, Höhepunkt und Finale, denn vielmehr als zeitlich organisierte Handlungssequenz, die vom Werk ausgehende Impulse an den Rezipienten sendet und dadurch sein Verhalten beeinflusst. In seiner Metapsychologie des Bildes stellt Georges Didi-Huberman diesbezüglich die entscheidende Frage: „Warum blickt, wenn wir sehen, was vor uns ist, stets etwas anderes uns an, ein in, ein drinnen aufdrängend?“3 Charakteristisch für die Tangenten-Bilder Giacomo Santiago Rogados bleibt trotz initialer Antriebskraft ihre enigmatische Herkunft, die ausreichend Freiraum für eigene Gedankengänge lässt.
1 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: Gesammelte Schriften, hg. Von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1982, Bd.V.1., S.577
2 Giacomo Santiago Rogado, Künstlerportrait, in; Du Magazin, 2011, S.39
3 Georges Didi-Hubermann: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S.12
„Berühren“ – in der französischen Kunsttheorie seit dem 18. Jahrhundert umschrieben mit „la touche“, „toucher“ – bezeichnet den Moment der Werkgenese, in dem der Künstler dem Material seine Konzeption, Idee und Form überstülpt und den Eindruck einer stofflichen Veränderung hervorruft. Zusätzlich stimuliert die technisch-formale Berührung der Farbe mit dem Bildgrund zugunsten einer divergierenden Oberflächentextur matter und glitzernder Partien den Tastreiz des Betrachters.
Sein Blick schwankt zwischen der Ambivalenz der räumlich kaum fassbaren Hintergrundlandschaften und den sich davor erstreckenden, optisch deutlich abgrenzenden, kraftvollen Tangenten. Ähnlich der sich fließend ausbreitenden und mit dem Untergrund verschmilzenden Farbe unterliegt das Auge einer unausweichlichen Anziehung. Ausgehend von diesem zentralen Motiv der Berührung kreisen die Konzepte und Überlegungen des Künstlers um die bei der Wahrnehmung stattfindende Blickkreuzung zwischen Betrachter und Bild:
„Es geht darum, den ersten Blick möglichst lange zu verzögern. Den ersten Blick so lange zu verzögern, dass es mehr ist als nur ein Blick, sondern eine Betrachtung, eine Anschauung oder gar ein
Zustand. All dies bis hin zu einer emotionalen Berührung.“ 2
Zwar wird eine narrative Komponente abstrakten Positionen der bildenden Kunst häufig aberkannt, doch lassen sich innerhalb dieses interaktiven Dialogs durchaus erzählerische Strukturen und unterschiedliche Formen von Zeitlichkeit ablesen – Narration, hier weniger basierend auf einem aristotelischen Spannungsbogen mit Einleitung, Höhepunkt und Finale, denn vielmehr als zeitlich organisierte Handlungssequenz, die vom Werk ausgehende Impulse an den Rezipienten sendet und dadurch sein Verhalten beeinflusst. In seiner Metapsychologie des Bildes stellt Georges Didi-Huberman diesbezüglich die entscheidende Frage: „Warum blickt, wenn wir sehen, was vor uns ist, stets etwas anderes uns an, ein in, ein drinnen aufdrängend?“3 Charakteristisch für die Tangenten-Bilder Giacomo Santiago Rogados bleibt trotz initialer Antriebskraft ihre enigmatische Herkunft, die ausreichend Freiraum für eigene Gedankengänge lässt.
1 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: Gesammelte Schriften, hg. Von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1982, Bd.V.1., S.577
2 Giacomo Santiago Rogado, Künstlerportrait, in; Du Magazin, 2011, S.39
3 Georges Didi-Hubermann: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S.12